Die Einsicht in die eigene Persönlichkeitsstruktur ist eine der schwierigsten Aufgaben, die wir uns stellen können. Die intellektuelle Analyse hilft da nur bedingt weiter. Selbst wenn ich in der Lage bin, gewisse Eigenheiten zu durchschauen, habe ich keine Veränderungen vorgenommen. Umwandlungen entstehen nicht durch Analyse,
sondern durch Betroffenheit! Betroffenheit entsteht durch ein wirkliches
in-den-Dingen-leben. Die lateinische Bezeichnung dafür heißt
Interesse. Von Ich oder Es zu sprechen ist nur wesentlich für das Erleben.
Für den Intellekt ist es irrelevant, ohne Bedeutung. Vorstellungen, welche uns von solchen Erlebnissen trennen, bilden die Mauern dazwischen. Die Verhaftung mit ihnen stellt die größte
Herausforderung dar. Und diese Verhaftung verdrängt etwas Anderes
in uns. Ermahnungen und Belehrungen, sind von geringem Nutzen. Bekehrungen sind kein guter Weg. Diese bringen etwas anderes mit sich,
etwas, was sehr hinderlich ist auf dem Weg zu erlebter (Selbst-) Erkenntnis, nämlich: ein schlechtes Gewissen! Durch Selbstbeobachtung erkennen wir die Persönlichkeit als etwas von unserem tieferen Kern verschiedenes. Viele Jahre verbringen wir damit, dieses Andere im Außen zu suchen. Wir urteilen, beurteilen, verurteilen, kritisieren oder verachten alles, was uns aus unserem persönlichen Umfeld in die Quere kommt. Wir steigen auf die Kanzeln der Gesellschaft und predigen der Welt, was darin alles schief läuft und wie sie richtig zu sein hat! Die "linke" Partei tut dies mit derselben Überzeugung, wie die "rechte". Wir beharren auf persönliche Rechte und ergreifen hinterlistige Methoden, um dieses Recht zu unseren Gunsten durchzusetzen. Und dabei meinen wir es ja nur gut mit unseren Mitmenschen und glauben, sie auf den rechten Pfad bringen zu müssen. Denn wir wissen es schließlich besser als jene.
Das alles tun wir lange, lange Zeit und wir leiden unendliche Leiden,
sterben unendliche kleine Tode, weil es der oder die andere einfach
nicht kapiert! Oder weil man uns selbst verkennt in unserer (vermeint8
lichen) Größe! So vergehen Jahre oder gar Jahrzehnte unseres Lebens in der Meinung, nur Gutes tun zu wollen, bis wir schmachvoll entdecken, dass
dieses Andere WIR SELBST sind! Wir entdecken, dass wir jahrelang einen schmerzhaften Kampf gekämpft haben - gegen uns selbst! Was wir als Liebe bezeichnet haben, war nur eine egoistische Variante des Selbst. Was wir hassten, waren entäußerte Anteile unserer eigenen Persönlichkeit, denen wir Du oder Es sagten, aber Ich meinten. Wir konnten sie nicht als unser Eigenes erkennen, weil wir mit ihnen aufs Innigste verbunden waren, ohne es zu wissen. Und dennoch haben wir sie erkannt, aber nur wenn sie von außen auf uns zukamen. Das Du bot uns gleichsam die Möglichkeit, auf den eigenen verdeckten Schlamm hinzublicken. Wir wollten "Es" nicht wahrhaben. Wir verteidigten die Unversehrtheit und Reinheit unserer persönlichen Glaubensbekenntnisse aufs Schärfste und fühlten Stolz.
Und nun, da wir angefangen haben, diesen Seelenacker umzupflügen,
zerbröckelt auf einmal unser Selbstbild. Es zerbricht in tausend
Scherben und wir sterben tausende von kleinen Toden. Wir wollen
auf einmal nicht mehr dieser Mensch sein, der wir waren. Wir wollen
ihn vernichten, auslöschen, zertrümmern! Er ist unser größter
Feind geworden. Er verkörpert alles, was wir früher draußen in der
Welt verurteilt haben, als wir ihn noch nicht kannten. Er ist das
Monster, welches wir dort draußen zu erblicken glaubten und welches
wir mit aller Kraft vernichten wollten. Nun erkennen wir es:
in uns selber. Jetzt erst haben wir begonnen, dies zu begreifen!
Wenn wir den Anderen in uns entdeckt haben, verlieren wir in
gewissem Sinn die Unschuld und damit die Unbefangenheit.
Gleichzeitig gewinnen wir aber sehr viel: UNS SELBST - und
damit mehr innere Ausgeglichenheit und Zufriedenheit im Leben.
Die Gedanken, die ich in diesem Buch mit Ihnen teile, sollen immer
als Prozess, als "Wegzehrung" und als wandelbare Suchbewegung
verstanden werden. Nur, wer ist Ich? Wer schreibt dieses Buch?
Wohin die Reise letztlich führt ist unwesentlich. Ich weiß es sowieso
nicht. Es bleibt ein stetes Suchen. Weshalb soll ich mir also den Kopf
darüber zerbrechen? Sicher, es gibt diese Ahnungen und Tendenzen,
die sich im Laufe des Lebens vielleicht klarer herausschälen. Gedanken
sind keine fixen Pflöcke, keine "Eisblöcke" (an denen die Titanics
der Dogmen zerbrechen), sondern Schiffe in immer bewegtem Wasser. Sie navigieren stets neu und richten sich unentwegt neu aus in
ihrer Hin- und Her-Bewegung. Gedanken festzunageln ist ein Unding. Gewiss, es braucht Ausrichtungen, Strukturen, Leitplanken. Nur, jede Struktur, jeder Gedanke bringt uns wieder in eine neue Situation! Das Heute ist anders als das Gestern und schon der nächste Augenblick ist wieder anders als dieser. Die Andersheit bringt neue Bedingungen und die neuen Bedingungen verlangen wiederum neue Gedanken. Der Kreislauf schließt sich. Heraklit sagte: In denselben Fluss steigst du nicht zweimal! Und Kratylos, sein Schüler war es, der sagte: Und in denselben Fluss, steigst Du auch nicht einmal! Gedanken sind aber nicht einfach willkürlich! Sie nehmen immer Bezug auf das Vorhergegangene. Sie verbinden die Vergangenheit mit der Zukunft. Wenn sie das nicht tun, dann sind es keine Gedanken mehr, sondern passive Vorstellungen, die von Assoziation zu Assoziation hüpfen, meist aus einem vorprogrammiertem Muster heraus und ohne logischen Bezug. Was ich für Sie schreibe, sind keine Rechtfertigungen eigener Ideen.
Nichts ist "absolute Wahrheit". Alles muss im Kontext der Wandelbarkeit
betrachtet werden. Jede "persönliche Wahrheit" verändert sich
mit Begegnungen und mit jedem Ihrer eigenen Gedanken und Gefühlen
immer wieder!