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Ein Dichter wird nicht in ein Land hineingeboren. Ein Dichter wird in die Kindheit hineingeboren. Die Kindheit hört nicht auf, sobald man an seinem sechzehnten Geburtstag einen Pass ausgestellt bekommt.
Was hat es mit dieser Stadt der Kindheit auf sich, die in allen von uns bestehen bleibt, unabhängig davon, wohin wir uns wenden?
Zuerst einmal ist sie ein geographischer Ort: Odessa war natürlich die Stadt, die nach Odysseus benannt wurde, und Heimat vieler Schriftsteller. Jetzt ist es ein Ort, an dem es mehr Denkmäler für tote Schriftsteller gibt als tatsächlich lebende Autoren. Aber Dichtung ist immer noch in den Straßen zugegen, weil Odessa eine multinationale Stadt ist.
Das ist das Odessa, das ich noch immer in mir trage.
Wie ich es definiere? Ein Teil von mir würde gern sagen, es ist ein Mythos. Und diese Stadt ist tatsächlich ein Mythos. Ich habe sie vor zwanzig Jahren verlassen, bin dennoch oft zurückgekommen, und wenn ich durch ihre Straßen gehe, bin ich verblüfft, wie viel und zugleich wie wenig sich verändert hat.
Andererseits ist Odessa überhaupt kein Mythos. Es ist ein Ort, an dem echte Menschen leben, eine große russischsprachige Stadt in der Ukraine, einem Land, das sich momentan mit einem sehr viel größeren Imperium im Krieg befindet, einem Krieg, der Sprachen als Vorwand benutzt, um Häuser zu bombardieren.
Und dennoch... mitten in diesem Schmerz,...gibt es immer noch Lachen, es gibt immer noch Straßenmusiker, es gibt immer noch diesen Dialekt, der sich weigert, die russische Sprache der Offiziellen ernst zu nehmen, der seine eigene, ganz verschiedene Musik anbietet.
Diese Musik, das ist für mich Odessa.
Aus dem Gespräch Ilya Kaminskys mit Rodica Draghincescu in diesem Buch