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Mit "Entweder/Oder" beginnt die Reihe der religionsphilosophischen, dichterischen und erbaulichen Werke, mit denen Kierkegaard sich in der Geistesgeschichte einen hervorragenden Platz erworben hat. Er eröffnet sie hier mit einem Werk voller eigenartiger Kontraste. Der I. Teil bietet eine Sammlung hochorigineller literarischer Essays. In einer viel bewunderten Analyse von Mozarts "Don Giovanni" wird gezeigt, daß für die Darstellung "sinnlich-erotischer Genialität", als deren reinste Verkörperung Don Juan vorgestellt wird, ein musikalisches Kunstwerk die angemessene Gestalt ist - auch wenn Musik dabei zu einseitig gefaßt sein sollte, bleibt die Fülle feinsinniger Beobachtungen und Interpretationen und das dahinterstehende Konzept einer aesthetischen Theorie sehr eindrucksvoll -. Mit Antigone, Marie Beaumarchais, Donna Elvira und Fausts Gretchen wird das Leid von Frauen, deren Liebe mißhandelt wird, "stimmungsvoll" mit großer Einfühlungsgabe nachgezeichnet. Umgekehrt wird in einer geistreichen Besprechung von Scribes Lustspiel "Les premiers amours" die Überzeugung eines jungen Mädchens, daß "die erste Liebe die wahre Liebe" ist, erbarmungslos dem Spott preisgegeben. Als "Wechselwirtschaft" wird ein Lebensprinzip angepriesen, dessen höchstes Ziel die Vermeidung der Langeweile ist; das soll vor allem auch die ernsten menschlichen Bindungen treffen wie z.B. die Ehe. Schließlich wird in der Novelle "Das Tagebuch des Verführers" - literarisch meisterhaft - ein junger Mann vorgeführt, der mit feinster Einfühlungsgabe ein junges Mädchen für sich gewinnt und sie dann kaltherzig verläßt. So birgt diese Sammlung eine Fülle verschiedenartigster, oft gegensätzlicher Gedanken und Stimmungen, von zynischer Leichtfertigkeit und Spottlust bis zu niederdrückender Schwermut. Gemeinsam ist allen Stücken, daß Empfindungsleben und Selbstgenuß als die letztlich beherrschen-den Gesichtspunkte hervortreten. - Völlig anderen Charakter hat der II. Teil des Werks. Der Hauptinhalt sind zwei umfangreiche Abhandlungen, die sich als "Briefe" eines "Freundes", des "Gerichtsrats", an den - fingierten - Verfasser des I. Teils geben; sie unterwerfen dessen "aesthetische Lebensanschauung" einer kritischen Analyse und zeichnen das Gegenbild einer Lebensführung in ethisch-religiöser Verantwortung. Der Grundgedanke dieses Bildes ist eine Paradoxie: Der Mensch soll seine geistige Bestimmung verwirklichen durch entschlossene Wahl des Guten - dies ist das "Entweder-Oder", vor das der Mensch gestellt ist -; sie ist nur möglich, indem er zugleich im Bewußtsein seiner Sündigkeit und in Reue "sich selbst wählt". Und doch ist die richtige Wahl etwas, das ihm widerfährt: "da tut der Himmel sich gleichsam auf, und das Ich wählt sich selbst, oder richtiger, es empfängt sich selbst" (II.Teil S.188). Ein Schwerpunkt der breit ausgeführten ethisch-religiösen Lebensanschauung ist das Verständnis der Ehe; sie ist als Lebensgemeinschaft auf der Grundlage des Vertrauens die wahre Erfüllung des Eros. Im ganzen bildet dieser zweite Teil zum ersten einen besonders auffälligen Kontrast. Tanzt der erste oft voller Laune und Übermut daher und fesselt durch seinen Reichtum an überraschenden Ideen und Wendungen, so entwickelt der zweite Teil seine ohnehin ernsten, schwerblütigen Gedanken noch dazu mit einer gewissen Umständlichkeit und Pedanterie, die dem Leser den Zugang nicht erleichtert. - Warum hat Kierkegaard ein so ungleiches Paar zusammengespannt? Des Rätsels Lösung ist diese: Als er dies Werk schrieb, hatte er soeben seine Verlobung aufgelöst; weil er die religiösen Gründe dafür seiner Verlobten Regine nicht glaubte enthüllen zu dürfen, hatte er, um die Auflösung durchzusetzen, die Maske eines Hartherzigen, Leichtfertigen angenommen. Dies Werk ist nun geschrieben als Versuch, sich Regine nachträglich verständlich zu machen, sozusagen als Frage an sie: Bin ich der geistreiche Aesthet des I. Teils, der mit den Gefühlen eines ihn liebenden Mädchens spielt und sich dann der Verantwortung entzieht, oder gibt der II. Teil mit seinem Loblied auf die Ehe meine wahren Überzeugungen wieder? Diese Frage ist das "Entweder-Oder", vor das Regine gestellt werden sollte. Der Grund, durch den Kierkegaard sich zur Auflösung der Verlobung gezwungen fühlte, wird dabei nur knapp angedeutet: es gibt die "Ausnahme", die "das Allgemeine nicht verwirklichen kann" (II. Teil S.351-355). Die Ehe kann z. B. dem versagt sein, der die Last eines Geheimnisses trägt, das er auch einem Ehepartner nicht offenbaren dürfte; das klingt als eine Möglichkeit an im I. Teil (S.201f, ausgesprochen von Marie Beaumarchais). - Für die Wirkung des Gesamtwerks war es bedauerlich, daß der I. Teil wegen seiner literarischen Qualität einen sehr viel stärkeren Eindruck gemacht hat. Das Bild Kierkegaards und der Ziele seines Wirkens als Schriftsteller ist dadurch entstellt worden; aus seiner Sicht zeigt dieser Teil Beispiele menschlicher Fehlhaltung. Der II. Teil ist es, der die wahre Überzeugung Kierkegaards ausspricht. Er ist bedeutend, weil er die erste ausführliche Fassung wichtiger Aussagen seines ethisch-religiösen Denkens bietet, und diese Fassung ist, trotz den durch die Fiktion des "Gerichtsrats" bedingten Pedanterien, besonders eindrucksvoll, weil sie aus der Leidenschaft des die Verlobungskrise Durchleidenden und in ihr um Klarheit Ringenden geboren ist; die drei gleichzeitigen "Erbaulichen Reden" tragen zur Vertiefung des Verständnisses Wesentliches bei.