Über die Anfänge von Gerichtsmedizin und Psychiatrie
Maren Lorenz umreißt Fragen wie die "Beurteilung von Zeugungsfähigkeit", die "Unzucht wider die Natur" oder unter welchen Bedingungen einer Vergewaltigungsklage stattgegeben wurde. Das heutige "objektive" Wissen über Krankheit und Gesundheit erscheint in einem neuen Licht, denn jede naturwissenschaftliche Erkenntnis ist abhängig vom Wandel der kulturellen Werte.
Biologie und Medizin suggerieren seit der Aufklärung "objektives Wissen" über die Natur - auch die des Menschen. Doch selbst sinnlich unmittelbares Erleben wie Körperwahrnehmung und Schmerzerfahrung sind wie jegliche Vorstellung von Gesundheit und Krankheit ist dem Wandel kultureller Werte unterworfen. Ein Blick in die "Kinderstube" medizinischer Erkenntnis zeigt die Kulturgebundenheit "natürlicher" Wahrheiten über die Entstehung und Manifestation von Wahnsinn und Vernunft, Körperlichkeit und Geschlecht.
Gerichtsmedizin und Psychiatrie, die seit der Mitte des
- Jahrhunderts von Gerichten zur Urteilsfindung herangezogen wurden, befaßten sich nicht mehr allein mit dem "körperlich Sichtbaren" wie Todesursache oder Wundarten. Amtsärzte und Universitätsprofessoren konstruierten nun auch Zusammenhänge zwischen Vernunft, Intellekt, Moral und psychologisch geprägtem sozialen Stand und Geschlecht. Frühbürgerliche Nützlichkeitserwägungen und naturalisierte sexuelle Normen dominierten das medizinische Urteil. Die Kollision von Volks- und Elitendiskursen über Vernunft und Wahnsinn, Gesundheit und Krankheit läßt sich an den oft dramatischen Gesprächen zwischen Gutachter und Begutachteten ablesen, die "aufgeklärte" Ärzte in Fallsammlungen publizierten.
Maren Lorenz wertete eine Fülle dieser frühen Fallsammlungen aus und analysiert die Erzählungen der Befragten, die ihre Träume, Ängste und Schmerzen, ihre Aggressionen und Bedürfnisse, ihre Familienverhältnisse, ihr Arbeitsleben, sexuellen Praktiken und Ernährungsgewohnheiten schildern.
Ins gerichtsmedizinische Visier gerieten Menschen der frühen Neuzeit immer dann, wenn sie körperbezogene Gesellschaftsnormen verletzten. Dazu gehörten impotente Ehemänner, unfruchtbare Ehefrauen, mißbrauchte Kinder, unehelich Schwangere, Sodomiten, gescheiterte Selbstmörder, hysterische Brandstifterinnen, wahnsinnige Mörder, "Zauberische" und Besessene.
So entfaltet sich ein buntes, oft bizarres Panorama des Alltagslebens im
- und 18. Jahrhundert.
Maren Lorenz, Dr. phil., Jahrgang 1965, Historikerin, ist Mitarbeiterin in der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.