Gedenkkultur in der Bundesrepublik
Die Selbstthematisierung einer Gesellschaft in ihrem Verh"nis zum Krieg l" sich an der Inszenierung von Gedenktagen in den Medien ablesen. Die Analyse des Ged"tnisraumes der Presse im f"nfzigsten Jahr nach Kriegsende verzeichnet aktuelle Befindlichkeiten der Deutschen.
Die Medien sind zu einem Ged"tnisraum geworden, der von der Inszenierung von Gedenktagen lebt. Das Jahr 1995 - f"nfzig Jahre nach Kriegsende - war Anla"zahlreicher runder Jahrestage: die Befreiung der Konzentrationslager, die Endphase des Bombenkriegs, der Beginn der Fluchtbewegung im Osten, die lokalen Kriegsenden und schlie"ich der
- Mai, das Datum der bedingungslosen Kapitulation. Die Berichterstattung der Presse bildet in "Der Krieg als Text" den Ausgangspunkt f"r eine Untersuchung der "Erinnerungskultur" der Bundesrepublik. Grundlage sind Textanalysen auf der Basis von 424 ausgewerteten Tages- und Wochenzeitungen.
Dabei zeigt sich, jenseits der aktuellen Kontroversen um "Befreiung" oder "Niederlage", eine tiefgreifende Symptomatik deutscher Geschichtsverh"nisse, die durch Schuld, Schockerfahrung und die Konfrontation mit dem Massentod gepr" sind. Unter den widerstreitenden Anforderungen des Erinnerns und Gedenkens, des Bewertens und Mahnens, der differenzierenden Kl"ng wie der nivellierenden Vers"hnung verwirren sich scheinbar eingespielte Argumentationsfiguren. Erkennbar wird der ungeheure Stellenwert, den die Deutungen von NS-Geschichte, Vernichtungskrieg und V"lkermord f"r das kollektive Selbstbild der Deutschen haben.
Die Textanalysen gew"en einen Eindruck von dem Wandel, der sich in der deutschen Gedenkkultur seit 1989/90 vollzogen hat. Zum einen wird nach jenen Ver"erungen gefragt, die sich in den Geschichtsperspektiven der fr"hen neunziger Jahre, insbesondere nach der deutschen Vereinigung, abzeichnen. Zum zweiten gilt das Augenmerk dem Generationswechsel, der sich auf den Umgang mit dem historischen Material sowie auf die Erz"haltung auswirkt. Und zum dritten kann das Gedenkjahr 1995 als Bilanzierung jener Erinnerungs- und Gedenkkultur gesehen werden, die sich seit den sp"n siebziger Jahren in der Bundesrepublik entwickelt hat und in der die Rede des damaligen Bundespr"denten Richard von Weizs"er zum
- Mai 1985 eine deutliche Z"r setzte.
Die mediale Pr"nz der Kriegserfahrung und ihrer kollektiven Traumata ist im Gedenkjahr "berdeutlich. Ist es "bertrieben zu sagen, da"wir am Ende der "Bonner Republik" noch immer in einer Nachkriegsgesellschaft leben?
Klaus Naumann, Dr. phil., Jg. 1949, Historiker und Journalist, Mitarbeiter des Hamburger Instituts f"r Sozialforschung im Bereich "Politik und Gesellschaft der alten und neuen Bundesrepublik", freier Mitarbeiter im WDR (ARD-Presseclub) und Mitherausgeber der "Bl"er f"r deutsche und internationale Politik".