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Die Fähigkeit, von vorgegebenen Mustern des Denkens selbstständig abzuweichen und sie durch eigene Ansätze zu erSetzen oder zu ergänzen, entwickeln Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe in zunehmendem Maße. Nirgendwo könnte dies willkommener sein als in der Begegnung mit Literatur, die in diesem Sinn neu entdeckt werden kann. Für eine Didaktik der Literatur ergeben sich daraus Konsequenzen. In dem vorliegenden Buch werden acht exemplarische Werke:
- Lessings Minna von Barnhelm
- Goethes Faust I
- Heines Gedichte
- Fontanes Effi Briest
- Kafkas In der Strafkolonie
- Schnitzlers Traumnovelle
- Feuchtwangers Die Geschwister Oppermann und
- Kurbjuweits Zweier ohne
daraufhin betrachtet, wie in ihnen Leser in äußerst schwierige Situationen geraten. Diese fordern ihre Entscheidung und Stellungnahme heraus, stellen also "Gefährdungen" dar, die indes nicht erlitten werden müssen, sondern einen Impuls auslösen, sich ihnen als individuelle Persönlichkeit auszuSetzen und sie für sich intellektuell und imaginativ zu bewältigen. Als Beispiel sei die in Minna von Barnhelm aufgeworfene Streitfrage benannt, ob Männer und Frauen von öffentlicher Anerkennung ihrer Redlichkeit unterschiedlich abhängig sind, so dass in dieser Hinsicht über Chancen, Risiken und Grenzen von Aufklärung zu verhandeln ist. Im Unterricht werden die angesprochenen Situationen zuerst rekonstruiert, ehe die Schüler in eine Selbstständigkeit entlassen werden, die von dem Punkt ausgeht, wo der jeweilige Text mehrere Arten, ihn zu deuten und sich zu ihm zu verhalten, nicht nur zulässt, sondern geradezu heraufbeschwört. In den Unterrichtsmodellen zu den einzelnen Werken wird versucht, eben diesen Punkt zu bestimmen, wobei der methodische Zugang stets variiert und dem angepasst ist, was die spezifische Problemlage nahelegt.
Hinter den konkreten und mit Materialien ergänzten Unterrichtsmodellen steht ein grundlegendes Konzept einer Literaturdidaktik im Horizont von Gefährdung. Diese nimmt Literatur als lebendige Erinnerung in den Blick, im möglichen Scheitern immer noch oder gar in besonderer Weise ein schätzenswerter, ausgezeichneter oder glückseliger Mensch zu sein. Damit soll bewusst ein Gegenentwurf zu Tendenzen der Literaturdidaktik formuliert werden, die den Forderungen eines Globaldarwinismus bisweilen allzu willfährig entgegenkommt, indem der Einzelne nur noch als Summe seiner Kompetenzen definiert wird, womit man, von einer Didaktik im Horizont von Gefährdung aus gesehen, den eigentlichen Bildungsauftrag verfehlt.