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Obwohl Szenen des Erkennens im Drama oft entscheidende Wende- bzw. Abschlusspunkte markieren und der Konfliktgestaltung ein ganz eigenes Gepräge geben, ist über den Begriff der Anagnorisis in der germanistischen Literaturwissenschaft kaum diskutiert worden. Man begnügt sich meist mit der Wiederholung dessen, was Aristoteles im Rahmen seiner Tragödienlehre vermeintlich darunter verstand. Oft wird die ,Wiedererkennung' im neuzeitlichen Drama auch mit künstlerisch fragwürdigen Enthüllungs-Szenen assoziiert, wie sie in der Trivial- und Schauerdramatik verbreitet sind. Olaf Rippe setzt hier einen Kontrapunkt. Er bilanziert innovative Forschungsbeiträge zum Thema und zieht deren Ergebnisse für die Neulektüre einiger Tragödien des 18. Jahrhunderts heran. Vor allem Impulse der angelsächsischen Literaturwissenschaft führten dazu, dass die Anagnorisis in jüngster Zeit als vielschichtige, teils widersprüchliche Kategorie literarischer Plots gewürdigt wird. In den für diesen Band ausgewählten Stücken von Lillo, Pfeil, Goethe, Klinger, Moritz und Schiller werden klassische Anagnorisis-Motive - der unerkannte Heimkehrer, die ungeklärte Herkunft oder die Selbsterkenntnis des Helden - produktiv in die literarische Welt des 18. Jahrhunderts übersetzt. Dabei beziehen die Autoren auf packende Weise die überlieferte Anagnorisis-Dramaturgie mit ihrer ironischen Spannung zwischen Unwissenheit und Wissen auf zeittypische Probleme der (Selbst-) Aufklärung.