«Niemand kennt sie, doch jedermann hat sie gelesen», hieß es bereits im alten China von der amourösen Literatur. Die hier versammelten erotischen Novellen schlagen einen Bogen über acht Jahrhunderte klassischer chinesischer Belletristik. Im Mittelpunkt steht die Kunst der sinnlichen Liebe in den vielfältigsten Spielarten - sei sie nun aufreizend oder genießerisch, freizügig oder verschämt, spielerisch-heiter oder melancholisch.
Bei den Verfassern handelt es sich um je zwei Hauptrepräsentanten aus der frühen Blütezeit der Tang-Dynastie (um 800) und aus der letzten Periode der Vollendung chinesischer Romandichtung im
- Jahrhundert. So weit die Epochen und ihre jeweiligen Moralvorstellungen auseinanderliegen mögen, markieren sie doch zwei Höhepunkte erotischer Literatur im alten China.
Bo Xinghan erzählt von einer Kurtisane, die ihren verarmten Liebhaber erst verstößt, sich seiner später aber erbarmt und ihm eine glänzende Karriere ermöglicht. Yuan Zhen schildert das Schicksal eines jungen Gelehrten, der sich dem Glück der Liebe ganz nah glaubt und seiner Geliebten glühende Sehnsuchtsbriefe schreibt. Wojiao shanren spielt mit dem Wunschtraum eines Mannes, der sich von zwei wunderschönen Mädchen nach allen Regeln der Liebeskunst verwöhnt sieht, und Li Yu läßt in seiner Novelle eine anfangs ganz und gar unverständliche Hochzeitsprophezeiung mit dem Fortgang der Handlung plausibel werden: Der junge Bräutigam darf gleich zehnmal hintereinander den Bund fürs Leben schließen, weil mit jeder neuen Braut ein neues Ehehindernis auftaucht.
Illustriert sind die Texte mit dreiunddreißig bezaubernden Holzschnitten. Der Sinologe Martin Gimm macht mit seiner sublimen Auswahl der deutschsprachigen Leserschaft verborgene Perlen einer anspielungsreichen erotischen Erzählkunst erstmals zugänglich. So galt etwa die Novelle «Episode eines Frühlingstraums» wegen ihres pikanten Inhalts lange Zeit als verschollen und ist erst Mitte des
- Jahrhunderts in Japan wiederentdeckt worden.