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In seinem Sonderheft »Wir? Formen der Gemeinschaft in der liberalen Gesellschaft« fragt der Merkur nach der Möglichkeit und Notwendigkeit von Vergemeinschaftung in der Gegenwartsgesellschaft. Es ist sicher richtig, dass es heute kaum noch Wertekonsense mit Bindekraft gibt. Ebenso richtig ist es, dass der Markt, was er regeln kann, marktförmig regelt. Es bleibt dennoch oder gerade deshalb die Frage des Titels höchst virulent. Welche existierenden Gemeinschaften sind segensreich, welche nicht? In den Beiträgen geht es einerseits um Grundsatzfragen wie die nach der Struktur der Gesellschaft, nach der Bedeutung von Gemeingütern oder der Notwendigkeit öffentlich-rechtlicher Strukturen. Andererseits werden an Fallbeispielen aber auch eine ganze Reihe von begrüßenswerten wie problematischen Formen der Vergemeinschaftung unter die Lupe genommen. Dazu gehört die Sozialmedienvernetzung bei Facebook ebenso wie mafiöse Strukturen und die Ingroup von Berliner Politikern, Lobbyisten und Hauptstadtjournalisten.
Im ersten Teil werden die Fragen auf eher abstrakter Ebene untersucht. Den Auftakt macht dabei der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm, der in einer von der Systemtheorie inspirierten Tour d'horizon die Möglichkeiten und Grenzen von Einheit und Integration der Gesellschaft untersucht - und zuletzt für Deutschland die bedeutende Rolle der Verfassung als gemeinsamem Bezugspunkt herausstellt. Mit viel Skepsis blickt, wie gewohnt, Rainer Hank auf europäische Einheitsbegeisterung. In seinem Aufsatz über die »verlorene Unschuld« weist er auf die heute kaum mehr präsente Geschichte einer Europarhetorik von rechts hin. Cord Riechelmann nennt in einer grundlegenden Skizze »Luft, Wasser, Wald und Bindung« als »Elemente einer Politik der Grundgüter«, die sich der durchgreifenden Ökonomisierung der Lebensgrundlagen widersetzt. Mit einer einzigen Institution befasst sich der Jurist Thomas Vesting, allerdings einem Medium, das für die Struktur der Öffentlichkeit von großer Bedeutung ist: dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der einst gegründet wurde, um für alle gesellschaftlichen Gruppierungen Repräsentationsoptionen zu bieten. Helmut König und Urs Stäheli analysieren dagegen zwei »soziale Figuren«, die für die Gesellschaft dennoch basal sind: König schreibt über »Freundschaft« als Vergemeinschaftungsform, Stäheli dagegen befasst sich mit dem »Schüchternen« als einer Figur, die in sozialen Netzwerken gerade nicht umstandslos aufgeht. Nina Verheyen hat noch einmal bei Georg Simmel nachgelesen und entdeckt, dass er Konkurrenz als Prinzip keineswegs als Hindernis, sondern geradezu als Voraussetzung für Gemeinschaftung begreift. Und Rudolf Helmstetter lässt zum Abschluss dieses ersten Teils Theoriebildung zum Thema Revue passieren - und gerät dabei auch noch in einem steckengebliebenen Fahrstuhl in eine angstvolle Zwangsgemeinschaft.
Im zweiten Teil wird es konkreter. Zum Auftakt eine Wir-Litanei, in der David Wagner existierende und denkbare »Wirs« nach Art einer Vorspannsequenz abrollen lässt. Thomas E. Schmidt verschränkt einen persönlichen Bericht über die Jahre, als er einmal Teil einer Jugendbewegung sein wollte, mit Überlegungen zum Dazugehören überhaupt. Mit Skepsis betrachtet Christian Demand aktuelle Debatten um das Kunstmuseum und die darin aufgestellte Kulturerbengemeinschaftsbehauptung. Gegen ein anderes Erbe, das des Rationalismus nämlich, wendet sich Remigius Bunia in seinem Plädoyer dafür, die Dinge und ihren Konsum in Überlegungen zur Gemeinschaftsbildung einzubeziehen. Was sie über ihre Freunde und die Freunde von Freunden lieber gar nicht wissen wollte, erfährt Kathrin Passig bei Facebook und denkt sich dazu unter dem Titel »Wir-Verwirrung« ihr Teil. Wie aus West-Perspektive die DDR bis heute dargestellt wird, legt Matthias Dell mit schönem Furor an Beispielen von Uwe Tellkamps Der Turm bis zu Florian Henckel von Donnersmarcks Das Leben der Anderen dar. Wie sehr die »Gastarbeiter« zu uns gehören - oder auch nicht -, mit dieser Frage setzt sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive Kristin Surak auseinander. Erhard Stölting weist darauf hin, dass nicht zuletzt das organisierte Verbrechen einen emphatischen Begriff von Gemeinschaft und ihrem Außen hat. Michael Rutschky liest und kommentiert die »Wirs«, die in drei Juniwochen durch die Zeitungen gingen. Jan Feddersen zeichnet die Geschichte des Grand Prix d'Eurovision bzw. European Song Contest und seiner eingefleischten Fan-Community nach. Aus dem inneren Kreis der Berliner Hauptstadtpolitikkorrespondenten heraus beobachtet Ralph Bollmann deren Gemeinschaft - und kritisiert die Kritiker, die es sich damit allzu einfach machen. Wolfgang Fach widmet sich dem vermeintlichen »Monster« als Protagonisten des Ego-Kapitalismus, während Stephan Herczeg in der Doppelheftfolge seines Journals in Frankreich ans Meer fährt Das letzte Wort hat Franz Kafka.