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Das Nibelungenlied ist wie wenige andere Texte von deutscher National-Pädagogik zum literarischen »Urbild reiner echter Deutschheit« erhoben worden. Als Hohes Lied der Treue diente es Anfang des 19. Jahrhunderts zur Befriedigung patriotischer Affekte, nach der gescheiterten Revolution von 1848 half es dem Bürgertum, seine Ohnmacht gegenüber dem Staat zu kompensieren, und unter dem Nationalsozialismus wurde es schließlich zur Stützung eines blinden Gefolgschaftskultes verwertet. Helmut Brackert, ordentlicher Professor für deutsche Philologie an der Universität Frankfurt und durch verschiedene Arbeiten als einer der besten Kenner des Nibelungenliedes ausgewiesen, setzt sich im Nachwort und Anhang dieser Ausgabe ideologiekritisch mit der Rezeption des Nibelungenliedes auseinander. Was er als Legitimation für eine neue, um Texttreue bemühte und alle Nachdichtung vermeidende Übersetzung anführt, gibt zugleich Hinweise auf neue Verständnisweisen des Nibelungenliedes: es bietet »als Modell einer Literatur, die noch ganz und gar gesellschaftlich funktional, noch nicht durch eine absolut gesetzte Ästhetik vermittelt ist, die Chance, die Geschichtlichkeit des eigenen Standorts am Gegenbild zu erkennen«. Seinen historischen Aussagewert erhält das Nibelungenlied erst, wenn die Figuren nicht primär als Individuen aufgefaßt werden, sondern als Verkörperungen von Rollen. In ihren Handlungen und Entscheidungen, ihrem Wünschen und Denken, sind sie durch die Position geprägt, die ihnen im Gesamtgefüge des Gesellschaftszustandes um 1200 zukommt.
Ein umfangreicher Anhang mit Anmerkungen, Worterklärungen, bibliographischen Hinweisen etc. ergänzt diese Ausgabe. Der erste, ebenfalls von Helmut Brackert übersetzte und herausgegebene Teil des Nibelungenliedes folgt den gleichen Editionsprinzipien (Fischer Taschenbuch, Nr. 6038).