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Vermutlich schrieb Netty Radvanyi das Manuskript zu "Aufstand der Fischer
von S. Barbara" zwischen Ende März 1927 und Frühjahr 1928. Im Juli 1928
unterzeichnete sie den Vertrag mit dem Gustav Kiepenheuer Verlag in
Potsdam, und drei Monate später erschien das Buch: ein kleinformatiger
Pappband von 188 Seiten, als Autorenname das Pseudonym "Seghers". Der Text
erregte sofort Aufsehen und machte die Autorin in Deutschland bekannt, wenn
zunächst auch der fehlende Vorname Irritationen über das Geschlecht
auslöste. Als ihr für dieses Buch und für die Erzählung "Grubetsch" der
Kleist-Preis zugesprochen wurde, überwog die Zustimmung zu dieser
Entscheidung. Der frühere Preisträger Hans Henny Jahnn hatte die Texte aus
einer Konkurrenz von 800 Manuskripten ausgewählt. "Bei großer Klarheit und
Einfachheit der Satz- und Wortprägung", heißt es in seiner Begründung,
"findet sich in den beiden Novellen ein mitschwingender Unterton sinnlicher
Vieldeutigkeit, der den Ablauf des Geschehens zu einer spannenden Handlung
macht. Die Funktionen des Lebens erscheinen weniger wichtig als die
Tatsache seiner Existenz."
Der Edition liegt die Erstausgabe von 1928 zugrunde. Sie ist mit einer
ausführlichen Kommentierung versehen, die auf neu eingesehenen
Archivbeständen basiert, u. a. einem kürzlich von Pierre Radvanyi
aufgefundenem Typoskript mit Passagen und Korrekturen, die von der
Erstausgabe abweichen. Die Darstellung der Entstehungs- und
Wirkungsgeschichte schließt Interpretationsaspekte ein, die auf die
mythisch-legendären und chronikhaften Dimensionen des Textes verweisen und,
erstmals in dieser Stringenz, auf seinen kulturhistorischen und
geschichtlichen Hintergrund.
Mit einem kleinen, rostigen Dampfer fährt Johann Hull von der
Margareteninsel an der bretonischen Küste auf die Insel St. Barbara. Er ist
müde und einsam. Auf St. Barbara wird er voller Hoffnung erwartet, denn die
Fischer dort sind unzufrieden: die Einnahmen für ihre Fänge sollen
verringert werden. Soll man streiken, wie auf anderen Inseln auch? Hull
macht ihnen Mut, den Aufstand zu wagen und an die eigene Kraft zu glauben.
Am nächsten Morgen weigern sich die Fischer auszufahren. Je länger der
Aufstand dauert und je aussichtloser er zu sein scheint, um so stärker
zerreißen Widersprüche und Konflikte das Leben der Inselbewohner. Ihr
Umgang miteinander bricht sich jetzt in vielen Facetten: Mißtrauen,
Feigheit und Verrat, Treue und Stärke. Schließlich wird der Aufstand zu
Bedingungen beendet, die schlechter sind als die vor dem Streik. Hull wird
festgenommen und zum Prozeß an Land gebracht.
Die Buchveröffentlichung dieser Erzählung macht 1928 die junge Autorin in
Deutschland bekannt. Die eindringlichen, expressiven Bilder, verbunden mit
den mythischen Dimensionen des Textes, veranlaßten bereits Zeitgenossen,
das mit dem Kleist-Preis ausgezeichnete Werk als Meistererzählung der
deutschen Moderne anzuerkennen.