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Meint man in Kreta die Insel in ihrer gesamten Ausdehnung von Westen nach Osten, also von einem Ende zum anderen, so sagt man: "Von Grabusa bis zum Kloster Toplou". So drückt sich auch Kapitan Michalis in Kazantzakis' Roman "Freiheit oder Tod" aus. Die Halbinsel Gramvousa bildet das westliche Ende und das berühmte Kloster Toplou das östliche. Das ist natürlich nicht ganz wörtlich zu nehmen, sondern eben nur eine Redewendung, denn der westlichste Punkt Kretas liegt bei der Kapelle Agios Nikolaos nahe dem Kloster Chrisoskalitissa, und der östlichste bildet das Kap Sidero. Soviel zur Erklärung des Untertitels dieses Buches.
Betrachtet man Kreta aus der Luft, so hat man den Eindruck eines riesigen Felsens, der aus dem Meer ragt, und das in einer Länge von 260 km. Kreta ist eine Insel der Berge, die nur wenig Raum für Ebenen und Täler lässt. Es gibt eine Menge Bücher über Kreta, aber meines Wissens hat noch niemand versucht, eine umfassende Darstellung über die Berge Kretas vorzulegen, die aus mythologischer, religionsgeschichtlicher und volkskundlicher Sicht alles Wissenswerte zusammenfasst und dabei auch naturgeschichtliche Bereiche wie Botanik, Zoologie, Mineralogie und Höhlenkunde aus heutiger Sicht einbindet.
Das Buch "Die Bergwelt Kretas" ist ein Versuch, sowohl das Wissen der antiken Schriftsteller, als auch die im Volk heute noch lebendigen Traditionen allen jenen zu vermitteln, die die Berge nicht nur als Fitnessstrecke betrachten, sondern tiefer in das Wesen der Landschaft und die in ihr lebenden Menschen eindringen möchten.
Für unsere Betrachtung wird es nicht genügen, sich mit der in Reiseführern üblichen Darstellung der Gebirge Kretas in drei Einheiten zu begnügen. Das mag für den lediglich an Sonne, Sand und Meer interessierten Touristen ausreichend sein, aber nicht für den, der die Insel erwandern und damit wirklich kennenlernen möchte. In Wirklichkeit gibt es zumindest dreimal so viele geschlossene Gebirgssysteme, die mit dem Bergland in Sitia im Osten beginnen, sich in den beiden Massiven Dikti und Selena um die Lasithi-Hochebene fortsetzen, dann im Zentrum das Ida-Massiv bilden, das durch die Mesara-Ebene vom Asterousia-Gebirge im Süden getrennt ist, weiter westlich in den Amari-Bergen wieder eine Einheit bilden und schließlich im größten Bergmassiv Kretas, in den Lefka Ori und in den Bergen des Selino im Westen enden.
Ziel dieser Publikation ist es, eine Kulturgeschichte der Berge Kretas zu liefern, die als Grundlage für die eigene Erkundung des Lesers und Benützers gedacht ist. Sie kann und will kein Führer für konkrete Touren sein, sondern möchte Anregungen zur Planung eigener Exkursionen geben.
Die Bergwelt Kretas ist durchaus spezifisch, d.h. sie besitzt sowohl in naturgeschichtlicher Hinsicht als auch historisch betrachtet eine eigene Problematik. So spielt beispielsweise die sonst bei großen Berggebieten interessierende Entdeckungs- und Besteigungsgeschichte bei Kretas Bergen nur eine untergeordnete Rolle, während die griechische Mythologie, die Insel als Rückzugsgebiet in Kriegszeiten, als Zufluchtsort, im Vordergrund stehen. Aufgrund der Weidewirtschaft, der Tierhaltung von Schafen und Ziegen selbst in den obersten Bereichen, waren die Berge Lebensraum bereits der frühesten Bewohner der Insel.
Da die Berge Kretas grundsätzlich nicht abweisend oder schroff zu nennen sind - nur wenige Gipfel bilden da eine Ausnahme - sind sie zwar kein bevorzugtes Ziel von Extrembergsteigern und Kletterern, dafür aber für den mit den zentraleuropäischen Mittelgebirgen vertrauten Wanderer ein Eldorado, das es noch zu entdecken gilt. Nicht Wände und Grate sind es, die hier locken, sondern eine Herausforderung der anderen Art macht die Bergwelt Kretas so interessant, das Begehen der Schluchten und der Besuch der Höhlen. Allerdings muss schon an dieser Stelle auf die Gefahren hingewiesen werden, die im Zusammenhang mit Schluchten und Höhlen verbunden sind. Hier gilt es, nicht nur alle klimatischen und meteorologischen Aspekte zu berücksichtigen, sondern auch die Tatsache, dass die meisten dieser durch das Wasser entstandenen Einschnitte in die Erde touristisch kaum erschlossen sind. Nur wenige markierte Pfade wurden bisher angelegt oder Höhlen begehbar gemacht, so dass hier besondere Vorsicht geboten erscheint.
Eine weitere Sonderstellung in der Bergwelt Kretas nehmen jene Bereiche ein, die im Nord-westen der Insel gleichsam wie Hörner in das Meer ragen, die Halbinseln Gramvousa und Rodopou, die mit ihrer kargen Vegetation landschaftlich eintönig wirken, jedoch kultur-geschichtlich einiges zu bieten haben. Darüber hinaus wird der Leser erkennen, dass jedes der Berggebiete seine Eigenheiten aufzuweisen hat. Oft sind es nicht die höchsten Gipfel, die in den Sagen und Mythen beschrieben werden, sondern die der eigentlichen Gebirgsmasse vorgelagerten Höhen, die das ganze Jahr über leicht erreichbar sind und seit minoischer Zeit in der Religion der Inselbewohner Bedeutung hatten. Seit mehr als einem Jahrhundert hat man diesen Berggipfeln besonderes Augenmerk gewidmet, da sie Kultorte der Kreter waren und dort heute noch die Reste von Höhenheiligtümern zu finden sind. Auf den markanten, weithin sichtbaren Gipfeln besonders des äußersten Ostens der Insel konnten Opferstätten der Minoer ausgegraben werden, deren Votivgaben heute zu Tausenden in den Museen Kretas zu finden sind.
Es gibt keine Insel im ägäischen Raum, deren Berggipfel höher aufragen als jene Kretas, kein Wunder, dass sie seit jeher die Blicke der Menschen auf sich gezogen haben. An ihren Gipfeln stauen sich die Wolken, nirgends sonst erlebt man Gewitter so bedrohlich, zucken die Blitze so grell. Kreta ist ein einzigartiges Bergland, das 95% der Gesamtfläche der Insel einnimmt und dem Menschen nur wenig Möglichkeit zum Anbau von Feldfrüchten, Wein und Fruchtbäumen bietet. Und doch hat sich hier vor rund 4000 Jahren eine Hochkultur entwickelt, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Staunen der Archäologen und der ganzen Welt hervorgerufen hat. Lassen Sie sich entführen in die Berge Kretas, dringen Sie ein in die Schluchten, die sich im Lauf von Jahrmillionen tief in die Erde gefressen haben, erleben Sie die Magie der Höhlen und wandern Sie hinauf zu den heiligen Gipfeln der Minoer. Sonne, Mond und Sterne werden Ihre Begleiter sein, Blumen und Sträucher werden zu Ihnen sprechen, und Hermes, der Gott der Wanderer, wird Sie geleiten und beschützen.